Auch wenn es in Unikliniken auf Chefarztebene (noch) anders erscheint (2019: 87% Männer): Medizin wird zunehmend weiblich. Mehr als 60% der Studienanfänger in Humanmedizin sind Frauen. Vor allem im niedergelassenen Bereich arbeiten deutlich mehr Frauen als Männer. Einen besonders hohen Frauenanteil gibt es dabei u.a. in den Fachrichtungen Gynäkologie (64%), Kinderheilkunde (57%) und… Augenheilkunde (47%). Im Gegensatz zu Radiologie (34%) oder Chirurgie (17%) (Quelle: Dtsch Arztebl 2017; 114(10): A-452 / B-394 / C-384).
Die Chance, von einer Frau untersucht und behandelt zu werden, ist also relativ groß und rein statistisch gesehen, sicher nicht von Nachteil. Denn Frauen nehmen sich mehr Zeit fürs Gespräch (Ärztezeitung „warum Ärztinnen etwas weniger verdienen; veröffentlicht: 17.03.2020), kommunizieren besser, nehmen die Beschwerden von Patienten ernster und erzielen dadurch sogar bessere Behandlungsergebnisse als Männer (Süddeutsche Zeitung: Gesundheit: Warum Frauen die besseren Ärzte sind; 4. März 2022).
Trotzdem höre ich mehrmals in der Woche, nachdem ich einen Namen ins Wartezimmer gerufen habe, als Antwort den Satz: „Was ich? Ich will aber nur zum HERRN Doktor!“
In unserer Praxis arbeiten mehrere Ärzte, das Geschlechterverhältnis ist relativ ausgeglichen. Aber aus Platzgründen selten mehr als zwei gleichzeitig, Das führt dazu, dass wir fast nie mit unserem Nachnamen angesprochen werden, sondern ich die „FRAU Doktor“ bin und mein Kollege der „HERR Doktor“.
Natürlich versuchen wir bei der Terminvereinbarung auf solche Wünsche einzugehen, sofern es möglich ist. In Spezialsprechstunden, die von bestimmten Kollegen geleitet werden oder zu Zeiten, wo ein Kollege einfach nicht in der Praxis anwesend ist (der Patient aber trotzdem just heute akute Probleme hat) ist es aber eben nicht möglich, sich seinen Arzt oder seine Ärztin auszusuchen.
Ich erkläre den betreffenden Menschen nach diesem Satz dann, dass der HERR Doktor heute nicht da ist oder seine Termine schon voll sind, und die Behandlung heute bei mir stattfindet. Da die Patienten zu diesem Zeitpunkt ja schon etwas in unserer Praxis gewartet haben, wegen eines Problems gekommen sind und dieses gelöst haben möchten, treten sie dann doch in mein Sprechzimmer ein.
Meistens folgt dann aber, wenn sie noch nie zuvor bei mir waren, der zweite Satz: „Sie sind aber klein und sehen so jung aus, sind Sie überhaupt schon Ärztin?“ Okay, ich habe noch keine grauen Haare und bin relativ klein und zierlich. Aber ich wüsste nicht, was die Körpergröße mit dem medizinischen Wissen zu tun hat. Hätten diese Patienten zu einem Typen wie Dwayne The Rock Johnson mehr Vertrauen? Ich habe vor meiner Zeit in der Praxis acht Jahre an einer renommierten Uniklinik gearbeitet, zuletzt als Funktionsoberärztin und behandle in der Praxis täglich mindestens 30 Patienten. Außerdem habe ich einen Doktortitel magna cum laude und eine halbe Habilitation. Aber das kann ich mir schlecht aufs T-Shirt drucken, damit es die Patienten gleich sehen.
Ich nehme die Aussage dann meist als Kompliment und untersuche die Patienten dann mit gewohnter Routine. Denn ich habe auch keine Lust über diese doch etwas respektlose Frage zu diskutieren. Schließlich wäre ich sicher nicht eingestellt worden, wenn ich keine Fachärztin für Augenheilkunde wäre (was im Übrigen mindestens 6 Jahre Medizinstudium plus 5 Jahre Facharzt-Weiterbildung erfordert). Am Ende erkläre ich ihnen nett und ausführlich, „weiblich“ eben, was sie haben und was man dagegen tun kann.
Und dann, bei der Verabschiedung, folgt dann in aller Regel der dritte typische Satz, der zum Glück alles wieder ausgleicht: „Vielen Dank, Frau Doktor, darf ich das nächste Mal dann wieder zu Ihnen kommen?“